Ortschaft in Ostfriesland, seit 1237
DIE ZEIT NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG BIS 1939
Die zwanziger Jahre standen weitgehend unter dem Eindruck des verlorenen Krieges. Durch die kriegsbedingte
Inflation, die 1923 durch die Stabilisierung der Währung und durch die Einführung der Rentenmark beendet wurde,
hatten auch in unserer Gemeinde viele Menschen ihre Ersparnisse verloren. Davon waren insbesondere diejenigen
hart getroffen, die sich soviel auf die hohe Kante gelegt hatten, daß sie davon im Alter hätten leben können,
insbesondere z. B. selbständige Gewerbetreibende. Es ist bekannt, daß auch hier Menschen, die sich eigentlich
schon zur Ruhe gesetzt hatten, im Alter ihre berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen mußten, um leben zu können. Im
übrigen war diese Zeit ja geprägt durch die politische Zerrissenheit unserer Gesellschaft, die große Zahl der Parteien,
die um die politische Macht stritten, die Vielzahl der Regierungskrisen und -wechsel und die unzähligen Wahlen, die
in immer kürzeren Zeitabständen sich wiederholten.
In unserer Gegend waren es in der Hauptsache folgende Parteien, die sich um die Gunst der Wähler bewarben:
Deutsche Demokratische Partei (DDP)
Deutsche Volkspartei (DVP)
Deutschnationale Volkspartei (DNVP)
Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)
Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)
Welfen
Zentrumspartei (Z)
Die Reichstagswahlen von 1920 bis 1933 hatten in der Gemeinde Eggelingen folgende Ergebnisse:
Von 100 gültigen Stimmen entfielen auf
Stimmen
DDP
DVP
DNVP
KPD
NSDAP
SPD
Welfen
Z
andere
1920
171
15,8
71,3
-
-
-
2,3
9,4
-
1,2
1924 - I
168
10,1
7,7
26,2
0,6
47,0
1,2
3,6
0,6
3,0
1924 - II
154
9,1
10,4
46,8
-
29,9
3,2
-
0,6
-
1928
169
4,1
5,3
26,6
-
33,1
4,1
0,6
-
26,0
1930
178
1,7
4,5
44,4
1,1
41,6
2,8
1,7
-
2,2
1932 - I
203
-
0,5
37,9
1,5
55,7
3,4
-
0,5
0,5
1932 - II
186
-
3,8
40,3
1,6
48,9
4,3
-
-
1,1
1933
212
-
-
41,5
-
57,1
1,4
-
-
-
Die Reichspräsidentenwahlen 1932 hatten in Eggelingen folgendes Ergebnis:
Im ersten Wahlgang:
Bewerber
erhaltene Stimmen
Duesterberg
134
Hindenburg
16
Hitler
63
Thälmann
-
Winter
-
Im zweiten Wahlgang:
Bewerber
erhaltene Stimmen
Hindenburg
14
Hitler
145
Thälmann
2
sonstige Namen
3
Die Hinwendung zum Nationalsozialismus, sicherlich auch eine Folge des verlorenen Krieges mit allen negativen
Erscheinungen, der wirtschaftlichen Misere und der sozialen Not, machte sich auch hier bemerkbar. Aber noch war
auch eine andere Organisation hier aktiv, nämlich der "Stahlhelm". Er war nach dem ersten Weltkrieg als Bund der
Frontsoldaten gegründet worden. Später konnte auch beitreten, wer nicht Frontsoldat gewesen war; ja selbst Kinder
unter 14 Jahren gehörten dieser Organisation an. Es gab auch einen Stahlhelm-Frauenbund.
Der "Stahlhelm" entwickelte sich zu einer Organisation, die den Wehrgedanken pflegte und innerhalb welcher
militärähnliche Disziplin beachtet wurde, zumindest dann, wenn die männlichen Mitglieder exerzierten und
militärische Übungen veranstalteten. Politisch stand der "Stahlhelm" den Deutschnationalen nahe.
Alice Memenga geborene Otten, damals selbst noch nicht 14 Jahre alt, erinnert sich:
"Vor 1933 waren in Eggelingen der Stahlhelm, der Jungstahlhelm und der Stahlhelmfrauenbund sehr aktiv. Der
Stahlhelm wurde geführt von G. J. Kunstreich, Toquard. Den Posten als Jungstahlhelmführer bekleidete Hans Gralfs,
Greehörn. Sonntags wurden formale Dienste und Schießübungen bei uns im Garten (der Gastwirtschaft Otten) auf
dem Schießstand durchgeführt. Die Frauen verbrachten ihre Versammlungsabende mit Handarbeiten, Vorlesen und
Singen. Die Führerin des Stahlhelmfrauenbundes war Frau Marie Burchards, Greehörn. Die Abende waren immer sehr
lustig und gesellig.
Später wurde der Stahlhelm von der NSDAP übernommen. Die Kinder und Jugendlichen bis zu achtzehn Jahren
wurden fast alle Mitglieder der HJ (Hitlerjugend) und des BDM (Bund Deutscher Mädchen), eben darum, weil soviel
"Schönes" und "Abwechslungsreiches" geboten wurde wie Singen, Basteln, Turnen, Volkstänze, Wandern,
Gesellschaftsspiele, Freizeitlager usw. Dazu hatten die Mitglieder samstags schulfrei; die Nichtmitglieder mußten zur
Schule und Kleingartenbau machen. Von Politik und den Hintergründen des Hitlerregimes hatten wir wirklich keine
Ahnung.
Im Jahre 1937 wurde das Erntedankfest mit großen Umzügen und verschiedenen Erntewagen aus Willen, Utteln, Asel
und Wittmund feierlich gestaltet. Im Festzelt wurde ganz groß gefeiert. Wir Jungmädel (Unterorganisation der
Hitlerjugend für Mädchen unter 14) durften auch am Festumzug teilnehmen, alle in weißen Kleidern und farbigen
Boleros und mit einem Erntekranz als Kopfschmuck. Im Festzelt haben wir dann noch einige Lieder gesungen und
Volkstänze aufgeführt. Für uns Kinder ein unvergeßliches Erlebnis. Die größeren Mädchen haben dann noch einen
Holzschuhtanz aufgeführt..."
Die NS-Zeit hatte also auch in Eggelingen Einzug gehalten. Trotzdem verlief hier die Entwicklung offenbar nicht so,
wie die braunen Machthaber sich das gewünscht hätten. Es gab selbstverständlich in unserer Gemeinde Mitglieder
der NSDAP. Ihre Zahl dürfte jedoch verhältnismäßig gering gewesen sein, und mit Sicherheit gab es keine Fanatiker
unter ihnen. Von den früheren "Stahlhelmern" machte kaum einer Dienst in der SA. Die Zahl der aktiven SA-Männer
konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Noch anläßlich des von Alice Memenga erwähnten Erntefestes 1937
glaubte ein Parteiredner darauf hinweisen zu müssen, daß Eggelingen aus der Sicht der NSDAP zu lange als
"schwarzer Fleck" habe angesehen werden müssen. Es gab hier Leute, die mit diesem Hinweis gar nicht
einverstanden waren. Schließlich habe man durch die Teilnahme am Erntefest gezeigt, daß man bereit war,
"mitzumachen".
Tatsächlich hatte Hitler zu dieser Zeit auch hier ein gewisses Ansehen, und es hatte wohl kaum jemand ernsthaft
etwas dagegen, daß Kinder ab dem zehnten Lebensjahr und Jugendliche bis zum achtzehnten Lebensjahr der
Hitlerjugend oder einer ihrer Unterorganisationen angehörten. Es konnte sich auch kaum jemand dagegen wehren,
wenn er nicht Gefahr laufen wollte, sich "unbeliebt" zu machen. Die Jungen machten durchweg mit, ohne zu murren.
Daß sie bei Sport, Spiel und Gesamt im nationalsozialistischen Sinne erzogen wurden, war den meisten kaum
bewußt.
Auch die Nationalsozialistische Frauenschaft hatte hier Mitglieder gefunden. Regelmäßig kam eine "Führerin" aus
Wittmund und veranstaltete Dienstabende. Diese werden wohl nicht viel anders verlaufen sein als die Dienstabende
des früheren Stahlhelm-Frauenbundes. Die Mitglieder waren teilweise ohnehin dieselben.
Man muß den Eggelingern sicher zugute halten, daß die schlimmen negativen Erscheinungen des
Nationalsozialismus hier nicht so deutlich wurden wie zum Beispiel dort, wo KPD und SPD aktiver gewesen waren
und wo nach der Machtübernahme brutal gegen die politischen Gegner, die sich nicht anpassen wollten,
vorgegangen wurde. Diese Vorgänge waren hier ja weit weg. Selbstverständlich gab es auch hier Kritik. Manchmal
hieß es dann: "Dat sünd de lütten Hitlers, de dat maakt." Gemeint waren damit die Parteifunktionäre auf unterer
Ebene, wie z. B. Kreisleiter oder Ortsgruppenleiter. Viele trauten Hitler persönlich kaum etwas Schlechtes zu. Daß das
ein Irrtum war, stellte sich erst später heraus.
Übrigens, eine Ortsgruppe der NSDAP hat es hier nicht gegeben. Eggelingen gehörte zur Ortsgruppe Wittmund. Daß
jedoch die sichtbaren Erfolge der damaligen Staatsführung auch in unserer Gemeinde weitgehend Beachtung fanden,
kann sicher nicht bestritten werden. Der wirtschaftlichen Not versuchte man, durch die "Winterhilfe" Herr zu werden.
"Keiner soll in diesem Winter hungern und frieren", war damals ein Leitsatz. Zu den sogenannten "Eintopfsonntagen"
wurde dazu aufgerufen, Solidarität zu üben mit den Minderbemittelten, sich mit einem einfachen Essen zu begnügen
und stattdessen für die Winterhilfe zu spenden. Und wenn die Sammler an diesen Sonntagen mit ihren
Sammelbüchsen von Haus zu Haus gingen, wurden gern zwei Groschen für diesen Zweck gegeben. Als äußeres
Zeichen für die Spendenfreudigkeit gab es dann eine Nadel oder ein Abzeichen, das durchweg ein Symbol darstellte,
das in die damalige Zeit paßte.
Es gab einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Arbeitslosigkeit war überwunden. Viele, meist
Landwirte, konnten sich ein Auto kaufen. Auch der Lehrer besaß einen Pkw. Ein Pkw der damaligen Mittelklasse
kostete etwa 2.000,- RM.
Auch die Zahl der Motorräder nahm zu. Die Motorisierung Ende der dreißiger Jahre war schon beachtlich, wenn auch
für die meisten ein solcher Luxus noch unerschwinglich war.
Zu einem erheblichen Teil war der wirtschaftliche Aufschwung sicher zurückzuführen auf den Wiederaufbau der
Wehrmacht. Trotz der furchtbaren Erfahrungen im ersten Weltkrieg war ja der Wehrwille auch in Eggelingen nicht zum
Erliegen gekommen. Dafür hatten der Stahlhelm und später die Hitlerjugend gesorgt. Als 1935 die allgemeine
Wehrpflicht wieder eingeführt wurde, mußten auch die jungen Männer aus Eggelingen zur Musterung. Wer
angenommen worden war, kam mit einer Papierblume geschmückt zurück, auf der ein Abzeichen prangte mit dem
Wort "wehrfähig". Der Musterungstag wurde dann von den angehenden Rekruten ausgiebig in den beiden
Gaststätten gefeiert. Diese Ausgelassenheit im Zusammenhang mit einer ernsten Sache mag darauf zurückzuführen
gewesen sein, daß jeder glaubte oder zumindest hoffte, es möge nicht zu einem neuen Krieg kommen. Bald sollten
wir jedoch eines anderen belehrt werden.